Hunger
Vielleicht kennen wir diese Zahlen: Wieviele Menschen weltweit hungern – während gleichzeitig ein Drittel aller produzierten Lebensmittel im Müll landet. Wieviele von Mangelernährung bedroht sind – während ein Viertel der jährlichen Getreideernte ans Vieh verfüttert wird. Und wieviele Menschen auch hierzulande nur ungenügend durch die Gesellschaft geschützt werden. Vielleicht wissen wir auch, dass 2019 weltweit 850 Millionen einer ungesicherten Ernährungslage ausgesetzt waren – oder hungerten. Und wir haben schonmal gehört, dass das jeden 9. Menschen betrifft oder dass jeden Tag 24000 Menschen daran sterben. Dass der Hunger nicht zurück ist, sondern seit 2015 wieder auf dem Vormarsch. Und dass Corona droht, 2021 weitere 80 Millionen Menschen in die extreme Armut zu stoßen.
Was Hunger bedeutet
Vielleicht wollen wir das oft auch gar nicht so genau wissen. Vor allem, was Hunger wirklich bedeutet: Was der Duden mit einem „unangenehmen Gefühl in der Magengegend“ beschreibt, kennen wir – und auch wieder nicht. Denn Hunger ist mehr als Mangel an Nahrung. Er ist entwürdigend und die elementarste Form von Elend. In der politischen Arbeit werden drei Formen von Hunger unterschieden. Das ist erstens der akute Hunger als Unterernährung über einen absehbaren Zeitraum hinweg. Auslöser hierfür sind Dürren und Katastrophen. Meist leiden Menschen, die von akutem Hunger betroffen sind, auch unter chronischem Hunger. Dieser stellt zweitens eine dauerhafte Unterernährung dar. Dabei nimmt der Körper dauerhaft zu wenig Nahrung auf. Chronischer Hunger steht in unmittelbarem Zusmmenhang mit Armut und ist global am weitesten verbreitet. Schließlich gibt es drittens noch den verborgenen Hunger. Er ist eine Form des chronischen Hungers. Aufgrund von Essensmangel und einseitiger Ernährung fehlen den Menschen wichtige Nährstoffe. Weniger sichtbar als akuter Hunger führt Nährstoffmangel langfristig zu schweren Krankheiten. 2 Milliarden Menschen leiden weltweit an verborgenem Hunger – auch in den vermeintlich reichen Industrieländern.
Hunger als Verteilungsproblem
Was uns eigentlich wütend machen sollte, scheint irgendwie „normal“. Weil wir das Wort so häufig hören, dass es an Eindringlichkeit verloren hat, schauen wir oft weg. Vielleicht, weil wir glauben, das hätte nichts mit uns zu tun. Tatsächlich gibt es nicht zu wenig Lebensmittel, diese sind nur ungerecht verteilt. Und während Millionen hungern, werden hier „überschüssige“ Lebensmittel vernichtet. Klimawandel, Konflikte um Land, Ausbeutung, Viehhaltung und Spekulation sind zusätzliche Ursachen für Knappheit von Nahrung in bestimmten Regionen der Welt – die schutzlos und strukturell abhängig vom globalen Norden sind. Also doch von uns.
Vielleicht glauben wir ja, Hunger wäre nicht unser Problem. Und ja, in Europa hungern vergleichsweise wenige Menschen. Trotzdem gab es bereits vor der Pandemie bundesweit 700000 Wohnungs- und Obdachlose. 13,4 Millionen Menschen in Deutschland sind armutsgefährdet, weil sie weniger als 60 % des mittleren Einkommens zu Verfügung haben. 1,6 Millionen Menschen finden Unterstützung bei den Ausgaben des Tafel Deutschland e.V. – davon ein Großteil Senioren. Auch damit sie nicht hungern müssen. Am Ende ist es egal, ob wir die Zahlen kennen: DasThema muss trotzdem zurück auf die Agenda. Die Coronakrise zeigt uns klar die Versäumnisse und Verwerfungen einer zunehmend ungleichen Gegenwart auf, in der Menschen ausbeutbare Ressourcen sind, für die keine Verantwortung übernommen wird. Sie zeigt uns die Grenzen unserer Art zu leben und zu wirtschaften auf. Und dass es unbestreitbare und angemessene Absicherungen braucht, um ein Leben in Würde führen zu können. Hier und überall. Vielleicht wurde der Friedensnobelpreis 2020 auch deshalb dem Welternährungsprogramm der UNO verliehen. Damit wir wieder hinsehen.